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Zu den Arbeiten von Johannes Myller

Zeichnen als Prozess der Suche, Kunst als Möglichkeit der Welterkenntnis – Das sind Konzepte gestalterischer Praxis, seit Künstlerinnen und Künstler sich in der frühen Neuzeit immer mehr davon emanzipierten, ihr handwerkliches Können nur in den Dienst eines Auftraggebers zustellen und beschlossen, sich selbst und ihre Weltsicht in den Fokus zu rücken. In diesem Emanzipationsprozess, der sich Schritt für Schritt mit dem Selbstbild des Künstlers als Genie und Avantgardist verquickte, lassen sich weite Bereiche der neueren Kunstgeschichte einordnen, oft verbunden mit der großen Geste des Eingeweihten in die Mysterien der Kunst. Johannes Myller steht zwar in diesem beruflichen und kulturellen Kontext – aber in stiller Konzentration agiert er mit seinem künstlerischen wie visuellen Material und sucht die große Geste nicht um ihrer selbst willen.

Jede seiner Arbeiten ist die Forschung nach Zusammenhängen, Silberstiftstrich für Silberstiftstrich. In bewundernswerter Geduld und Zurückhaltung erschafft Myller Werke, die die Frage nach Sinnhaftigkeit visualisieren. Dabei scheut er nicht davor zurück, spirituelle Motive zu verwenden und damit sich als Mensch wie als Künstler greifbar – vielleicht auch angreifbar – zu machen. Vielmehr erschafft er großformatige farbige Zeichnungen und Mischtechniken, die in ihrer Verdichtung und Konzentration aus sich selbst heraus sprechen und zugleich in einer schwebenden Ruhe innehalten, die vom Strich des Stiftes in leise Schwingung versetzt wird.

Es wäre vorschnell, den Künstler auf wenige Themenfelder festlegen zu wollen – der konzentrierte Arbeitsprozess und die zeitaufwändige Umsetzung haben bislang noch nicht eine so große Zahl an Werken entstehen lassen, dass es angebracht wäre, bereits Resümee zu ziehen. Doch lassen sich einzelne Gestaltungselemente beschreiben, die sich durch Myllers Werk ziehen, egal, ob es sich um ungegenständliche oder figurative Arbeiten handelt.

Besondere Beachtung verdient dabei ein Objekt, das immer wieder auftaucht und an eine geschwungene Röhre erinnert – ein meist gleichbleibend breites Element mit abgerundeten Enden, die jeweils ein kreisförmiges Segment umschließen. Assoziativ irgendwo zwischen Organischem und Technoidem verortet, übernehmen diese „Röhren“ oft eine wichtige Aufgabe im Bild, werden zum zentralen gestalterischen Element, aus dem sich ein komplexes System zusammenhängender Strukturen entwickeln kann. Und immer wieder tauchen auch „Röhrenformen“ auf, die zur einen Seite hin breiter werden und dadurch eine Betonung, einen Akzent innerhalb der Formenkonstellation setzen. Ausgangsinspiration für dies Formvokabular war, so der Künstler, die Beobachtung, dass bei flüchtig an Wände gesprayten Tags die Dichte der Farbe an den Rändern des gesprühten Striches sowie an Beginn und Ende höher ist. Zugleich kommt es dort, wo sich verschiedene Formelemente überlagern, zu einer Verdichtung der transparenten Farbigkeit und zu einer farblichen Mischung, die den Schnittstellen zusätzliche Wichtigkeit zuweist. Myller übernimmt dieses ästhetische Phänomen und transformiert es: Aus dem Resultat einer flüchtigen subversiven Geste wird ein bewusst gesetztes und sorgfältig durchgearbeitetes, farblich moduliertes Gestaltungselement. Die Geste wird so zum Zeichen, das viele Bezüge möglich macht: In abstrakten Bildkompositionen wird es als geometrisches Element zum Baustein komplexer Systeme – kommunizierender Röhren sozusagen -, die ein geheimnisvolles, von außen nicht durchschaubares, dennoch sinnvolles System evozieren und einen Raum entstehen lassen. Zugleich sind diese „Röhren“ auch Sperren, die den Blick des Betrachters aufhalten, wirken zudem gelegentlich, wenn sie farbig aus der Papierfläche strahlen, fast wie Lichtquellen.

Oder lässt sich dieses Formelement vielleicht noch auf eine andere Weise verstehen? Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ihre „Enden“ richten, die Kreissegmente, dann können diese auch als Pole verstanden werden, zwischen denen sich eine Verbindung, eine Brücke entwickelt. Hierauf verweist die Tatsache, dass Myller eine Serie mit diesen Motiven „Bridges“ genannt und damit genau diesen Gedanken der Verbundenheit in den Blick gerückt hat. Das „Röhrenelement“ wird zum Symbol der Überwindung von Distanz; dabei geht es hier vielleicht gar nicht zuvorderst um Gegensätze, denn die Kreisform symbolisiert Gemeinsamkeit oder zumindest Ähnlichkeit der Pole. Dennoch wird in den Arbeiten dieses Werkzyklus spürbar, wie sehr es Johannes Myller am Herzen liegt, mit Hilfe seiner Kunst den Wert der Verbundenheit erlebbar zu machen, weit über eine gestalterische Abstraktion hinaus.

Die gegenwärtige globale Gesellschaft führt zwar systemische Großmodelle wie Kapitalismus oder Demokratieformen als erstrebenswerte Errungenschaften vor Augen, versagt jedoch oft genug in deren Umsetzung; das Konzept von Individualismus ist zu einem nahezu unangezweifelten Ideal geworden. Zugleich erlebt nicht nur Deutschland, sondern ein großer Teil der Welt derzeit Tendenzen zu Abgrenzung und Radikalisierung und zur Erschaffung neuer Feindbilder. Vor diesem Hintergrund können Myllers abstrakte Arbeiten auch als Beschwörung einer Sehnsucht begriffen werden, die auf Austausch, Verbindung und Gemeinsamkeit zielt, auf ein funktionierendes gleichberechtigtes gesellschaftliches Gefüge. Da, wo die Abstraktion der „Bridges“ auf Figuration trifft, gibt sie dem Individuellen im Gemeingültigen ein Gesicht, wird der Einzelne in seiner Verbundenheit mit dem Gesamten wahrnehmbar. Dann – in oft dem christlichen Kontext entlehnten Figurenkonstellationen – wird die „Bridge“-Form zur Bewegung, zur Geste, zum dynamischen Bildmittel. Sie kann verstanden werden als ein Sinnbild dessen, was geistige und körperliche Welt miteinander verknüpft, eine Verbindung auch hier herstellt. Zugleich schlägt sie den Bogen zwischen Künstler und Gesellschaft, in einem empathischen Gefühl der Verbundenheit, auch wenn der künstlerische Prozess in der Stille des Ateliers stattfindet.

Johannes Myllers Bilder gestalten und zeigen Systeme. Sie forschen nach den für uns schwer be- oder sogar ungreifbaren Bezügen in dieser Welt und fragen nach ihrem Sinn. So schließt sich der Kreis mit Goethe und seinem Faust, dem ruhelosen Sinnsucher, der versucht zu ergründen, „(…) was die Welt // im Innersten zusammenhält“.

Till Ansgar Baumhauer

Dresden, 2022

 

Johannes Müller, geboren 1985, wohnhaft in Plauen, nutzt das Mittel der Zeichnung als Ausdruck. Dabei legt er sich nicht fest, ob seine Arbeiten figürlich oder abstrakt sind. Er versucht den Spagat zwischen beiden Welten. Der dabei entstehende Kontrast wird durch die eingesetzten sprachlichen Mittel verstärkt: poetische Szenen bettet der Künstler in mechanische Formen ein. Die figürlichen Elemente finden ihren Ausdruck in Symbolen, Schrift und Porträts. Dem gegenüber steht eine impulsive Geste, welche sich zu mächtigen Formen zusammensetzt.

Am Anfang steht bei Johannes Müller die technische Form, deren Ursprung in einer Beobachtung oder auch einem Fundstück liegen kann. In darauf folgenden Schritten, analog dem langsamen Sichtbarwerden eines unter Sand verborgenen Gefäßes, arbeitet der Künstler seine Figuren heraus ohne dabei ihre Herkunft zu leugnen und sie aus diesem Habitat zu lösen. Rationalität und Gefühl sind beides gleichberechtigte Elemente innerhalb dieses Spektrums.

Seine Bildsprache versteht sich als Konfrontation mit der eigenen Zerrissenheit, sie zeigt den inneren Konflikt, die Wechselseitigkeit der beiden Ausdrucksformen. Durch farbliche Nuancen wird jedoch der entstandene Raum ausgefüllt, dadurch die Konfliktsituation aufgelöst und schließlich mündet die Gesamtkomposition in eine positive Atmosphäre.

Frank Weinhold

Chemnitz, 2017

 

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